Persönliche Gedanken

 

Mein Herz klopfte bis zum Hals. Eben hatte mir meine Lehrerin das Zeugnis in die Hand gedrückt. Die Noten in Chemie und Französisch waren ungenügend. Was würden meine Eltern sagen, die diesen Bericht unterschreiben mussten? Ein kleiner Kobold in meinem Innern grinste hämisch: „Das hast du jetzt von deinem Nichtstun!“ Doch ich beruhigte mich schnell, denn ich brachte das Zeugnis meinem Vater. Kaum hatte er einen Blick auf die Noten geworfen, begann er freudig zu strahlen. Er hatte bei Singen und Musik die Bestnote entdeckt. Egal, wie lausig wir Kinder in den Hauptfächern abschnitten, wenn wir in der Musik brillierten, war die Welt in Ordnung!

 

Eines Tages schaute Vater Karl auf seine Söhne: Christoph an der Geige, Niklaus am Cello, Karl junior an den Blockflöten. Und Vater Karl sah, dass es gut war. Sein Nachwuchs hatte eine solide musikalische Ausbildung genossen. Daraus liesse sich sogar eine Appenzeller Streichmusik machen. Wenn nur ein Hackbrett dabei wäre! Der Heimweh-Appenzeller beschenkte sich zum 50. Geburtstag: Er reiste zum legendären Hackbrettbauer
"Chliine Fuchsli" an den Sammelplatz in Appenzell und kaufte sich eines der urtümlichen Instrumente mit den 138 Kupfersaiten. Ein neues Leben begann.

 

Am Anfang spielten wir daheim in der Stube – nachdem uns Mutter in der Küche mit Süppli und Salätli, Gulasch und Götterspeise gestärkt hatte. Für Familienanlässe übten wir ein Wälserli, versuchten ein Zäuerli, arrangierten einen Schottisch. Mit jedem Fest kam ein Stückli mehr dazu. Es folgte der internationale Durchbruch: der erste öffentliche Auftritt bei Vaters Lokführer-Gewerkschaft! Wir verliessen die gute Stube und wagten uns hinaus als Stubemusig. So begann 1976 die Geschichte der Stubemusig als Volksmusikkapelle mit vier Brüdern, deren ältester ihr Vater ist.

 

Niklaus war gut zehnjährig, Christoph ein Teenie und ich ein langhaariger Jugendlicher. Es war die Zeit der Folkfestivals. Die Frauen trugen Lilalatzhosen, die Männer ertrugen deren Feminismus, liessen zum Schutz ihre Bärte wachsen und zündeten Räucherstäbchen an, die nach Patchouli rochen. Und wir Stubenmusiker freuten uns an archaischen Volksmusikklängen – eine Faszination, die bis heute anhält.

 

Eine Party gegen Häuserabrisse? Es spielte die Stubemusig Rechsteiner. Ein Solidaritätsfest für die Freiräume des Autonomen Jugendzentrums Reithalle? Es spielte die Stubemusig Rechsteiner. Eine Gala zugunsten der Alpeninitiative, die die Lastwagen auf die Bahn zwingen wollte? Es spielte die Stubemusig Rechsteiner. Wann immer es in Bern eine Volksmusik brauchte, die nicht zur „Ländler-Mafia“ gehörte – es spielte die Stubemusig Rechsteiner. Zwischen zwei Wälserli blickte einst auch Bundespräsident Kurt Furgler entzückt auf die heile Welt dieser Familienkapelle – bald aber wurde sein Kopf hochrot und er verlor die Fassung, als wir jungen Stubenmusiker mit ihm über die 80er-Jugendbewegung stritten. Was für ein Gegensatz zur Freude von Südafrikas First Lady Zanele Mbeki, die ein paar Jahre später im Café Hugo in Oberdiessbach unsere Tänze und das schmelzende Raclette genoss.

 

Über die Jahrzehnte hinaus haben sich Bilder etlicher Auftritte tief ins Gedächtnis eingegraben. Unvergesslich der einstige Auftritt an einem Fest von Menschen mit Behinderung, die begeistert in ihren rasenden Rollstühlen zu unseren Rhythmen durch einen riesigen Saal tanzten – es war, als würden sie fliegen.

 

Oder wir spielten am 50-Jahre-Jubiläum des Symphonieorchesters Basel direkt nach der Appenzeller-Streichmusik Bänziger. Wir in unserer Alltagskleidung, Bänzigers im traditionellen Appenzeller-Look. Doch wir spielten zum Teil die gleichen alten Stücke. Nur - niemand merkte es, denn unsere Arrangements unterschieden sich dermassen, dass die Verwandtschaft niemand bemerkte. Und doch spielten wir beide Combos Appenzeller Musik.

 

Und da war auch der Auftritt zu einem 1. August in Athen. Auf dem Gepäckband im Flughafen brach in einer Kurve der Cello-Hals und im Garten der Schweizer Botschaft gabs weder das erhoffte Suflaki noch ein Glas Ouzo, sondern Olmabratwürste mit Bier ...

 

Für uns trachtet Volksmusik weder nach Edelweisskitteln noch nach gleichfarbigen Hemden. Stubemusig soll nicht tönen, als wären wir alle gleich angezogen. Kleine güldene Rahmkellen im Ohr und die gelben Hosen der Appenzeller Sennen sind schön. Aber wir Stadtmenschen würden uns damit nur verkleiden. Auch wenn wir manchmal grinsend von einem Megahit der „Original-Rechsteiner-Buob’n“ träumen, sind es doch nicht Retortenschlager aus der Humm-ta-ta-Industrie, die uns inspirieren. Alle vier Rechsteiners spielen nicht nur Volksmusik, sondern haben auch ganz andere Erfahrungen gemacht: In Kirchenchor oder bei fasnächtlicher Blasmusik, zwischen Rock und Swing oder bei lautem Punk oder freiem Jazz. Immer wieder jedoch kehren wir zurück zu den eigenwilligen Klängen rund ums Hackbrett. Uns gefällt die Volksmusik als bunter Teppich, gewoben aus Fäden verschiedenster Welten und Zeiten. Einst waren die Mazurkas aus Osteuropa zu Gast und sind als Masollke im Appenzell geblieben. Und die traurigen Klänge des Berner Guggisbergerliedes verbinden sich bei uns mit dem Moll der Klezmer-Musik.

 

Was bleibt? Zwei CDs der Stubemusig Rechsteiner – lieber wenig ausgesuchte und fein arrangierte Lieblingsstücke als permanente Plattenproduktionen. Geblieben sind auch viele farbige Familienfotos. Und tiefe Erinnerungen an unzählige Hoch-Zeiten. Die Freude über gelungene Eigenkompositionen. Die Lust am Zusammenspiel. Tanzende Menschen vor dem inneren Auge. Melodien und Rhythmen, die auch nach Jahrzehnten immer wieder neu tönen. Und – dass ich bei meinen Kindern in den Zeugnissen immer zuerst auf die Musiknoten schaue. Und sie das vielleicht bald bei eigenen Mädchen oder Buben ebenfalls tun.

Karl Johannes Rechsteiner, Stubemusig Rechsteiner